5.

Bei den Shoshoni war es Brauch, ihre Toten dort zu beerdigen, wo die Seele den Körper verlassen hatte. Dieser Brauch rührte daher, dass sie früher als Nomaden durchs Land gezogen waren und ihre Verstorbenen auf den weiten Wanderungen nicht mit sich herumtragen konnten.

Doch wo auch immer der Körper eines verstorbenen Shoshone-Indianers begraben lag, seine Seele musste nach Newe Sogobia zurückgeholt werden, sonst würde sein Geist ewig in der Fremde umherirren.

So hatte es John seiner Tochter erklärt. Julia hatte gedacht, dass dieses Ritual eine schöne Art war, die Verstorbenen zu ehren. Nun war sie hier in Nevada und würde an der Abschiedszeremonie für ihren Vater teilnehmen, die am kommenden Wochenende in den Cortez Mountains stattfinden sollte. Es war Adas Idee gewesen, ihren Sohn auf dem alljährlichen Sommertreffen der Shoshoni zu verabschieden, denn so konnten auch Verwandte und Bekannte dabei sein, die von weit her angereist kamen.

Julia hatte sich bisher keine Vorstellung von diesem Treffen gemacht, deshalb war sie verblüfft, als sie nach und nach mitbekam, welche Dimensionen es haben würde.

Am Nachmittag bekamen Hanna und Julia von Ada die Aufgabe, verschiedenfarbige Stoffbänder zu Bündeln zu schnüren. Sie sollten an Verkehrsschildern und markanten Punkten angebracht werden, um die Besucher des Treffens zum Versammlungsplatz zu führen.

»Wie groß ist dieses Treffen eigentlich?«, fragte Julia ihre Mutter, als sie erfuhr, wie viele Stoffbündel es werden sollten.

Sie saßen am Tisch in der Küche und Hanna sah von ihrer Arbeit auf. »Deine Großeltern organisieren das Sommercamp jedes Jahr«, erklärte sie. »Shoshoni aus allen Teilen des Landes reisen an, um für zwei Tage auf dem uralten Versammlungsplatz am Mount Tenabo zu zelten. Jeden Morgen treffen sich alle zur Sonnenaufgangszeremonie, teilen die Mahlzeiten, sitzen beisammen und lauschen den Geschichten der Alten am Lagerfeuer. Sie sprechen über den Kampf gegen das BLM und die Goldmine und organisieren ihren Widerstand.«

»Warst du schon einmal dabei?« Julia sah ihre Mutter neugierig an.

Hanna nickte. »Ja, ein Mal. Zusammen mit deinem Vater.«

Das Telefon klingelte und Ada stürmte in die Küche, um abzuheben. Julia hörte, wie ihre Großmutter sich mit jemandem stritt und schließlich den Hörer aufknallte.

Ihr Gesicht glich einer Gewitterwolke, als sie sich zu ihnen setzte.

»Das war Veola«, sagte sie mürrisch. »Eigentlich sollte Jason die Schilder morgen aufstellen, aber er ist seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen und seine Mutter hat keine Ahnung, wo er sich herumtreibt. Nun muss Simon das machen, obwohl ich ihn für andere Arbeiten brauche.«

»Wie wäre es, wenn Julia ihm dabei hilft«, schlug Hanna vor, »dann geht es schneller.« Sie sah ihre Tochter aufmunternd an. »Das ist doch bestimmt nicht schwer.«

Julia erschrak, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.

»Würdest du das tun, Julia?«, fragte Ada. »Zu zweit geht es schneller.«

Was bleibt mir anderes übrig, dachte sie und sagte: »Klar. Warum nicht?«

Als Julia später einen Moment mit ihrer Mutter allein war, beschwerte sie sich bei ihr. »Du schickst mich mit diesem Jungen, der nachts um unseren Trailer streicht, alleine auf Tour?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Machst du dir gar keine Sorgen?«

»Auf mich wirkt Simon vollkommen harmlos«, erwiderte Hanna lächelnd. »Er ist ein bisschen schüchtern, das ist alles.«

»Du hättest mich wenigstens fragen können, ob ich das überhaupt will.«

»Du hättest Nein sagen können.«

»Dann wäre Granny enttäuscht gewesen.«

»Dir liegt also etwas an ihr?«

Julia zuckte mit den Schultern.

»Wenn du sie wirklich magst, dann zeigst du es ihr am besten, indem du dich nützlich machst. Ada hasst Faulheit.«

Julia musste daran denken, wie enttäuscht und ärgerlich ihre Großmutter über Jason war und nickte. Ihre Mutter hatte ja recht. Simon schien wirklich harmlos zu sein. Aber sie hatte das ungute Gefühl, dass er ihr aus dem Weg ging und von ihrer Hilfe wenig begeistert sein würde.

Zum Abendessen versammelten sie sich wieder im Ranchhaus. Julia hatte inzwischen mitbekommen, dass ihre Großmutter und Simon mit dem alten Mann kommunizierten, indem sie ihm Nachrichten oder Fragen auf Zettel schrieben. Diese Zettel und verschiedene Stifte lagen überall griffbereit herum. Aber Ada war ein sehr ungeduldiger Mensch. Manchmal dauerte es ihr zu lange, etwas aufzuschreiben. Dann brüllte sie Boyd an und das verstand er meistens.

Woran Julia sich nur schwer gewöhnen konnte war, dass ihre Großmutter rauchte wie ein alter Cowboy. Fast ständig hatte Ada eine Zigarette zwischen den Lippen, während sich der alte Mann nur ab und zu eine genehmigte. Zu Julias Entsetzen hatte sogar Hanna wieder angefangen zu rauchen, vermutlich, um ihre Nerven zu beruhigen. Ada scheuchte ihre deutsche Schwiegertochter herum wie ein Huhn. »Hanna tu dies und Hanna tu das.« Danke sagte sie nie.

Nach dem Abendessen wies sie Simon an, am nächsten Tag mit Julias Hilfe die Wegweiser aufzustellen. Julia konnte Simon deutlich ansehen, dass er mit der aufgezwungenen Gesellschaft genauso wenig einverstanden war wie sie, aber zu ihrem Bedauern protestierte er nicht. Auf ein bloßes Kopfnicken hin verschwanden Boyd und Simon schließlich hinter dem Haus. Hanna spülte das Geschirr und Ada schickte Julia mit einem Karton leerer Babygläser in den hinteren Teil des Hauses. Dort entdeckte Julia durch ein kleines Fenster ihren Großvater und Simon, wie sie in der Dämmerung arbeiteten.

Der alte Mann hatte zwei Tage zuvor eine Kuh getötet und sie in vier Teile zerlegt. Nach altem Brauch wurde das Fleisch tagsüber in eine Plane eingeschlagen und in der Nacht, wenn es kühler war, an Haken in die frische Luft gehängt. Simon benutzte eine Art Flaschenzug dazu. Er musste sein ganzes Köpergewicht einsetzen, um die schweren Kuhviertel nach oben zu ziehen.

Ada tauchte hinter dem Haus auf und Simon hängte das letzte Stück Fleisch an den Haken. »Ich k-k-kann die Wegweiser auch allein aufstellen«, sagte er. »Ich b-rauche keine Hilfe.«

»Das weiß ich, Junge«, entgegnete Ada. »Aber die Kleine macht eine schwere Zeit durch. Sich nützlich zu machen, wird sie auf andere Gedanken bringen. Außerdem seid ihr zu zweit viel schneller fertig.«

Simon widersprach ihr nicht und Julia ahnte, dass er nicht mal auf den Gedanken kommen würde, Derartiges zu tun. Ihre Großmutter war eine alte Frau und den Alten gab man keine Widerworte. Das war ein ungeschriebenes Gesetz bei den Shoshoni, so wie bei den meisten anderen Indianervölkern auch.

Dieser Tag war noch heißer als die vorangegangenen gewesen und Simon wusste, dass die Zeit der kühlen Nächte bald vorbei sein würde. In Shorts und T-Shirt lag er auf der blauen Schlafcouch in seinem Wohnwagen und las in Dostojewskis Die Brüder Karamasow.

Obwohl Simon schon mitten in der Geschichte war, tanzten ihm die Figuren mit den schwierigen russischen Namen auf der Nase herum. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab, die Worte blieben nicht hängen. Jedes Mal, wenn er umblätterte, merkte er, dass er nicht mehr wusste, was auf der vorangegangenen Seite stand. Schließlich legte Simon den Wälzer resigniert beiseite. Er holte sich eine Flasche Wasser aus dem Küchenschrank und trank in langen Zügen.

Danach legte er sich auf die Couch zurück und streichelte Pepper, der auf einer alten Decke am Boden schlief. Ein zufriedenes Brummen ließ den warmen kleinen Hundekörper erzittern. Simon hatte den jungen Hund im vergangenen Herbst blutend und kläglich winselnd vor Eldora Valley am Straßenrand gefunden. Er hatte ihn mit auf die Ranch gebracht und sich um seine Verletzungen gekümmert. Seitdem waren die beiden unzertrennlich.

Der Zeiger seines Weckers rückte unerbittlich voran. Längst war es nach Mitternacht und am nächsten Morgen würde er wie immer kurz vor sechs aufstehen müssen. Stöhnend wälzte sich Simon auf dem verknitterten Laken herum. Er war müde, konnte jedoch nicht einschlafen. In ihm hatte sich eine neuartige Unruhe breitgemacht, die er nicht mehr abzuschütteln vermochte.

Seit Julia und ihre Mutter auf der Ranch waren, ging alles nur noch scheinbar seinen gewohnten Gang. Unter der Oberfläche des Alltags gerieten die Dinge in Bewegung, das merkte Simon ganz deutlich. Etwas veränderte sich und das beunruhigte ihn. Denn jede Veränderung hatte ihren Preis. Im Grunde hatte es schon begonnen, bevor die beiden hier angekommen waren. Simon kannte die Stimmung, wenn sich Besuch ankündigte, doch diesmal war alles anders gewesen.

Veola war des Öfteren aufgetaucht und dann hatte er laute Stimmen aus dem Ranchhaus gehört. Ada hatte wütend das Haus geputzt und vergeblich versucht, Ordnung in ein Chaos zu bringen, das vermutlich schon seit dreißig Jahren existierte.

Aber abgesehen von diesen Dingen, gab es auch noch etwas anderes, das Simon nicht zur Ruhe kommen ließ: Er bekam Julias traurige Augen nicht aus dem Sinn. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, hatte er sie angesehen und gespürt, dass sie mit ihren Gedanken ganz weit weg war. Nur wo?, das hätte er gerne gewusst.

Was war bloß los mit ihm? Wieso interessierte ihn dieses Mädchen auf einmal?

Pepper wachte auf und hob den Kopf.

»Hey, Kumpel, wie findest du sie?«, fragte Simon.

Der Hund winselte leise.

»In Ordnung? Na, dann sind wir ja ausnahmsweise mal einer Meinung.«

Boyd verbrachte seinen Abend mit Kopfhörern vor dem Fernseher. Der Empfang war schlecht und das Programm miserabel, aber das schien den alten Mann nicht zu stören. Halb bekleidete Damen schwangen ihre langen Beine im Takt und zeigten strahlende Gebisse. Julias Großvater amüsierte sich köstlich und ab und zu konnte sie ihn lachen hören.

Hanna war müde. Sie wünschte allen eine gute Nacht und machte sich auf den Weg zum Trailer. Ada brachte Tommy ins Bett und kam nicht wieder. Julia setzte sich an den Küchentisch unter die nackte Glühbirne und schrieb einen Brief an ihre Freundin Ella. Oder besser, sie versuchte einen Brief zu schreiben.

Nach den ersten Sätzen über den Flug, die Fahrt und die Ankunft auf der Ranch fiel ihr nichts mehr ein. Gedankenverloren kritzelte sie auf ihrem Schreibblock herum. Sie konnte nicht die Wahrheit schreiben darüber, was die Ranch wirklich war, nämlich ein einziger großer Schrottplatz mit ein paar armseligen Rindern. Nicht einmal Pferde gab es. Ella liebte Pferde, damit hätte Julia bei ihrer Freundin Eindruck machen können.

Die Wahrheit über ihre indianische Familie konnte sie auch nicht schreiben. Zum Beispiel, dass ihr Halbbruder Jason zwar ein cooler Typ war, sie aber offensichtlich nicht leiden konnte. Tommy, ihr indianischer Cousin, war ein gruseliger Freak und ihre Großmutter keineswegs eine gütige alte Indianerin, die ihrer Enkelin Lebensweisheiten beibrachte. Sollte sie Ella schreiben, dass sie aus Marmeladengläsern trank und in einem Wohnkasten aus Blech schlafen musste, in dem es keinen Strom, kein Wasser und nicht einmal eine funktionstüchtige Haustür gab?

Irgendwann kam ihr Großvater aus dem Wohnzimmer geschlurft, holte die Schokolade aus dem Kühlschrank und setze sich zu ihr an den Tisch.

»Wem schreibst du?«, fragte er.

Sie riss ein leeres Blatt vom Block und schrieb: Meiner besten Freundin.

Er las und nickte.

»Ich hoffe, du schreibst nur Gutes über deine Indianerfamilie.«

Na klar, schrieb sie und lächelte. Julia sah den alten Mann vor sich sitzen und genüsslich an der Schokolade knabbern. Sie musste daran denken, dass die Ranch mit fünf Millionen Dollar verschuldet und nicht zu retten war. Dass die dunklen Hände ihres Großvaters jeden Tag das Land bearbeiteten, als wüsste er nichts davon.

Warum füttert ihr die Kühe mit Heu?, schrieb Julia. Da draußen gibt es so viel Gras.

»Das sind Jährlinge, sie haben noch keine Brandzeichen. Wenn wir sie in den Bergen grasen lassen, kommt das BLM und nimmt sie uns weg.«

Wann bekommen sie ihr Brandzeichen?

Boyd zuckte mit den Achseln. »Das schaffen wir nicht alleine. Dazu brauchen wir Hilfe.«

Was ist mit Jason?

»Jason ist Jason«, sagte er. »Seit Simon da ist, lässt er sich hier kaum noch blicken.«

Wie alt ist Simon und wo kommt er her, schrieb Julia und setzte ein dickes Fragezeichen dahinter.

Der alte Mann sah sie einen Augenblick nachdenklich an und sagte schließlich: »Ich glaube, er ist siebzehn. Und wo er herkommt . . . Niemand weiß, wo er wirklich herkommt. Im vergangenen Sommer haben viele Leute draußen im Camp gewohnt und auf der Ranch gearbeitet. Der Junge war dabei. Ich dachte, er würde zu jemandem gehören. Aber als der Herbst kam und die Helfer das Camp verließen, weil es kalt und ungemütlich wurde, ist Simon dageblieben. Ich habe ihm angeboten, in den alten Wohnwagen zu ziehen, und das hat er getan. Simon ist ein Einzelgänger, aber er ist ein guter Junge. Manchmal weiß ich nicht, was ich ohne ihn machen würde.« Boyd lachte breit. »Er spricht nicht und ich kann nichts hören. Sind wir nicht das perfekte Team?«

Julia nickte lächelnd. Sie mochte das tiefe Lachen ihres Großvaters.

Ist die Schokolade gut?

»Oh ja. Von Schokolade versteht ihr Deutschen was.«

Julia zeigte auf die halb aufgegessene Schokoladentafel und schrieb: Das war Pas Lieblingsschokolade.

Der alte Mann strich ihr mir seiner großen Hand zärtlich über den Kopf und fragte: »War mein Sohn dir ein guter Vater?«

»Ja«, sagte Julia leise. Und schrieb: Er war der beste.

Hufgetrappel und wildes Schnauben weckten Julia am nächsten Morgen. Sie setzte sich in ihrem Bett auf, rutschte auf Knien ans Fenster heran und sah hinaus. Eine kleine Pferdeherde ungefähr zwanzig Tiere umkreiste den Trailer. Sie waren braun, gescheckt oder grau mit weißen Punkten. Zwei langbeinige Fohlen drängten sich an ihre Mütter. Anführer der Herde war vermutlich ein dunkelgrauer Hengst, dessen Rücken und Bauch wie von Raureif bedeckt schienen. Sein fast weißes Hinterteil war gesprenkelt mit dunklen Punkten.

Bisher hatte Julia keine Pferde auf der Ranch gesehen und vermutet, dass ihre Großeltern sich keine mehr halten konnten. Wahrscheinlich waren die Tiere aus den nahen Bergen gekommen. Sie begannen zu grasen und sich an den Zaunpfählen zu scheuern.

Eilig schlüpfte Julia in ihre Kleider und machte Katzenwäsche im Bad. Es war erst kurz vor sieben und ihre Mutter schlief noch, als sie ins Freie trat. Die Pferde grasten direkt vor dem Trailer. Sie hoben die Köpfe, als sie Julia bemerkten, dann trotteten sie auf ein Signal des gefleckten Hengstes hin davon.

Auf dem Weg zum Ranchhaus sah Julia, wie Simon mit Tommy auf dem Vorplatz erschien und ihn in seinen Truck setzte. Es war noch kühl, aber Tommy trug nur Shorts.

»Guten Morgen«, sagte sie, als sie bei den beiden angelangt war.

Simon nickte.

»Warum hat er nichts an?«, fragte sie. »Ihm muss doch kalt sein?«

Simon drehte sich von ihr weg, um die Fahrertür des Pick-ups zu schließen. »Tommy m-ag Kleidung nicht. Er trägt immer n-n-nur seine Shorts.«

»Im Winter auch?«

»Ja, auch im Winter. Aber dann sitzt er n-icht hier draußen.«

Pepper umkreiste sie bellend und schnappte nach Julias Knöcheln.

Simon bückte sich, um ihn auf den Arm zu nehmen. »Hey, lass das gefälligst bleiben, Kumpel«, sagte er streng.

Julia streckte die Hand aus, um Pepper zu streicheln, sorgsam darauf bedacht, nicht mit Simons Händen in Berührung zu kommen. »Na, du kleine Nervensäge«, sagte sie zu dem Hündchen und kraulte ihn hinter den Ohren. »Was ist eigentlich mit seinem Bein passiert?« Fragend sah sie Simon an.

»Ich nehme an, er ist u-nter die Räder gekommen. Hab ihn im Straßengraben g-g-gefunden.«

Simon setzte den Hund wieder auf den Boden und ging zurück ins Haus. Julia trottete ihm hinterher.

Während sie ihre Cornflakes löffelte, kochte Simon Wasser für Pipsqueaks Flasche. Er goss es in eine Metallschüssel, rührte mit dem Schneebesen Milchpulver dazu und füllte kaltes Wasser nach, bis die Flüssigkeit die richtige Temperatur hatte.

»Ich m-uss noch Pipsqueak und die Kühe f-f-füttern. Dann können wir losfahren und die Wegweiser aufstellen.«

»Darf ich dem Kälbchen die Flasche geben?«, fragte Julia.

Statt einer Antwort drückte Simon ihr die große Plastikflasche mit dem Gummischnuller in die Hand.

Simon konnte es nicht lassen, immer wieder verstohlen zu Julia hinüberzusehen. Während er die Kühe mit ihrer morgendlichen Ration Heu versorgte, gab sie dem winzigen Kälbchen die Flasche.

Simons Gedanken eilten voraus. Was sollte das bloß werden? Den ganzen Vormittag allein mit einem Menschen, den er überhaupt nicht kannte. Dass dieser Mensch ein ausgesprochen hübsches und obendrein sympathisches Mädchen war, machte die Sache nicht unbedingt leichter.

Wenigstens schien es Julia nicht zu stören, dass die Worte ihm nur schwer über die Lippen kamen. Und wenn, dann ließ sie es sich nicht anmerken. Sie redete mit ihm, als würde es seine Stotterei gar nicht geben. Ihr Interesse hatte sich nicht verflüchtigt, nachdem sie mitbekommen hatte, was mit ihm los war. Im Gegenteil, Julia beobachtete ihn mit kaum verhohlener Neugier.

Simon mochte es nicht, beobachtet zu werden. Es war ihm lieber, die anderen sahen durch ihn hindurch wie es meistens der Fall war. Und er wollte schon gar nicht angelächelt werden, denn das zog nur neue Probleme nach sich.

Am liebsten würde er ihr weiter aus dem Weg gehen, aber das war nicht möglich, nachdem er von Ada dazu verdonnert war, sie mitzunehmen. Er seufzte leise. Schon jetzt rann ihm der Schweiß über den Rücken, und wie es aussah, würde der Tag mächtig heiß werden. Kein Wölkchen stand am Himmel. Er stützte sich auf die Heugabel und blickte durch den Zaun hindurch zu Julia und dem Kälbchen hinüber. Pipsqueak stieß mit seinem großen Kopf nach den Beinen des Mädchens, als die Flasche leer war. Das Maul des Kälbchens war feucht und bald hatte Julia eine klebrige Schleimspur an ihrer sauberen hellen Hose. Sie verzog das Gesicht, als sie es bemerkte.

Unwillkürlich musste Simon grinsen. Alles hatte seinen Preis, das war nichts Neues für ihn.

Die verborgene Seite des Mondes
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